B e a t r i x   M.   K R A M L O V S K Y

Landhausgalerie Ausstellungsbrücke St. Pölten



DAS  TUCH  VOM  HUNGER

Literarische Lebensrezepturen

Als Aperitif die Zeugung

Ein durchschnittliches österreichisches Leben von 75 Jahren beinhaltet, sieht man von Notzeiten ab und ich berechne hier wenig während der Kriegsjahre und für die Hälfte der Besatzungszeit nur ein Essen pro Tag, mögliche 74.000 Mahlzeiten. Selbst wenn wir sehr kurze Essenszeiten, alles andere als genießend, für die Nahrungsaufnahme berechnen, hätte diese fiktive Fünfundsiebzigjährige heute ca. 780 Tage, also etwas mehr als zwei Jahre ihres Lebens mit Essen verbracht. Ihr Taufessen wird sie verschlafen haben, aber sicher wurde sie länger als fünfundvierzig Minuten in 24 Stunden gestillt. Sie hat Weihnachtsessen, Osterschmäuse, Geburtstagsfeiern, Gedenktage und gesellschaftliche Höhepunkte miterlebt. Sie hat Hochzeitstafeln kennen gelernt, zumindest ein Muttertagsfrühstück über sich ergehen lassen, die familiären Höhepunkte mit einem speziellen Essen gewürdigt. Sie war vermutlich eingeladen zu privaten und öffentlichen Festen und der eine oder andere Leichenschmaus wird sie auch an das eigene Ende erinnert haben. Berechne ich das nicht allzu exzessiv, sondern nach Rücksprache mit mehreren älteren Herrschaften, dann kann ich für dieses Lustessen nochmals 1875 Tage berechnen und sie können mir glauben, ich habe immer die kleinste Möglichkeit in Betracht gezogen, also nochmals fünf Jahre abgerundet. Ihre fiktiven Kinder und Enkelkinder, ebenfalls in Österreich lebend, werden diese Lebensessenszeit um einiges länger haben, denn es geht uns gut.

            Diesem knappen Zehntel, das die Fünfundsiebzigjährige mit Essen verbracht hat, widmet sich dieses Tuch vom Lebenshunger. Es verzeichnet eine Biografie anhand von Festmählern, von Speisen, die traditionelle Bedeutung haben, denn das Leben kann auch als Tafeltuch gesehen werden, das sich zum Leichentuch hinentwickelt.

            Und wie hat sich doch die Essenskultur verändert! Asiatisches und amerikanisches Fastfood, neue Einwanderergruppen, die unsere Küche nachhaltig beeinflussen, neue Moden und Einsichten, die Kochgewohnheiten variieren. Österreichs Geschichte war und ist immer auch eine Geschichte des Essens, wobei ich mich um die soziologischen Hintergründe jetzt gar nicht kümmern will. Ich erzähle ein Leben anhand von Rezepturen und themengebundenen Anekdoten. Ich erzähle von der Wichtigkeit einer bestimmten Jause, der nachhaltigen Wirkung eines Picknicks, dem versöhnlichen Lachen beim Digestif, den Beilagen des Lebens, die zu historischen Treppenwitzen führen können, den Tafelfreuden schlechthin, die uns, unsere Gewohnheiten, unsere Traditionen, unser Land widerspiegeln.

Rezeptsammlungen sind auch die friedliche Vereinnahmung fremder Kulturen.

            Essen, nicht nur, um zu überleben, sondern, um etwas zu feiern. Was sagt das über uns aus? Traditionelles als wiedererkennbarer (und schmeckbarer) Anker, Geschichten rund ums Kochen und Essen als biographische Spurensuche eines Landes. 

            Und so nähere ich mich dem Augenblick der Erschaffung meiner fiktiven Heldin, es ist Frühling, es könnte alles besser sein, viele haben Grund zu jammern, aber der Märzwind fährt den Jungen in die Leiber, es ist Samstag, und vielleicht dichtet Carl Zuckmayer gerade an diesem Wochenende: 

Am besten trinkt sich´s im vertrauten Kreise,

            Um einen Tisch gesellt, daran man lang

                        Und müßig sitzt, mit flauem Fleiße

            Einander steigernd bis zum Pansgesang!

 

Vermeide stets, dich einsam zu besaufen,

Und laß es bleiben, wenn du traurig bist.

Doch laß getrost dich voll und voller laufen,

Wenn dir so ist, wie mir immer ist.

 

Kein Wunder, wenn es da zu einer Empfängnis kommt. Kein Wunder, dass da gezeugt wird! Ich habe 47 Frauen in meinem Alter nach dem Begleitumständen gefragt, unter denen ihre Kinder entstanden, bei 32 war ein Fest, ein Essen, eine fröhliche Feier die ebnende Ouverture in die Schwangerschaft. – ich wünsche meiner Heldin einen solchen Beginn, einen freudig genossenen Aperitif. 
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Biographie